Start zum 21. Berliner Sechstagerennen 1929. Quelle: live-radsport
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Sechs Tage lang sausten dreizehn Menschen
auf Fahrrädern im Arena-
rund des Sportpalastes, und das
Publikum hat 43000
Mark
für Preise
gestiftet. Die dreizehn fingen Freitag
abends um 9 Uhr an, und sie
rannten Tag und Nacht, zur
Essenszeit, zur Schlafenszeit, zu allen Zeiten.
Während draußen Straßenbahnen zu
fahren anfangen und aufhören,
Menschen sterben, vergiftet,
verletzt, überfahren werden, rennen dreizehn
in der Arena. Bedenkt man, daß
Gott in sechs Tagen die ganze
komplizierte Welt erschaffen hat,
so dünkt es einen sonderbar, daß
dreizehn seiner Geschöpfe in
derselben Zeit nichts anderes tun, als auf
ihren Rädern sitzen und Pedale
treten. Doch, heißt es, wäre dies ein
großes Ereignis, das die Menschheit
sehnsüchtig zwei lange Jahre erwartet
habe. Die ganze Menschheit. Soweit
sie Raum fand im Sportpalast,
vor dem die großen Bogenlampen
unermeßliches Licht verschwendeten,
als wären sie Himmelskörper und
würden vom lieben
Gott selbst erleuchtet. Aus dunklen
Straßen dampften die Menschen
hervor wie aus plötzlich
geöffneten Ventilen. Automobile schlängeln
sich, dünn geworden und elegant,
und ließen ihre Geschwindigkeit in
granziösen Kurven abebben. Vor den
Kassen drängte sich das Volk zu
seiner Ertüchtigung. Die
Logenplätze kosteten mehr als hundert, und
der Eintritt für Kinder betrug
zehn Mark. Ganze Häuser entvölkerten
sich, und ihre Einwohner setzten
ihr Familienleben, bestehend aus
Kinder, Hunde und Wärmeflaschen,
im Sportpalast fort.
So zogen die Griechen mit
Sitzkissen und Zwiebeln ausgerüstet in die
Euripideische Tragödie, die drei
Tage dauerte.
Den vielen Sitzreihen entsprießen
auf einmal viele tausend Zuschauerköpfe
wie Nadeln auf Steckkissen. Die
Musik entfesselt einen Marschorkan:
Das Fagott heult und zuckt, dünn
und spitz wie ein leckendes
Flammenzünglein, hervor aus dem
ernsten Tongebäude des Flügelhorns.
Halblautes Murmeln erhebt sich aus
der Menge und entwickelt
Säulen aus zerstäubten Silben,
zerbröckelten Worten, verhauchendem
Papiergeraschel. Auf einem Stuhl
wächst ein grüner Schutzmann in die
Höhe wie eine Tanne aus einem
Gartenbeet. Seine Augen versenden
möglichst weitreichende Blicke. Es
sind sozusagen Blicke auf Zehenspitzen.
Über die Barrieren hängen kühne
Menschenleiber wie Kleider zum
Trocknen. Die Presse sitzt am
Ziel, bleistiftbewehrt, sachlich.
Jedesmal läutet eine Glocke, hell
und siegreich, und ihre Luftschwingungen
flattern gegen die Saalecke. Die
Kinder verstreuen ratlose
Blicke und suchen vergeblich nach
einem Kontakt mit den Eltern, deren
Oberkörper fast bis in die Arena
hinunterhängen. Die weißbekleideten
Kellner spritzen durch die dunklen
Menschenhaufen wie abgeschossene
Leuchtraketen. Zu der Mitte sausen
die dreizehn in bunten
Trikots auf schräger und glatter
Ebene wie losgelassene Kreisel. Durch
einen Unfall scheidet einer aus
dem Wettrennen aus, indem er einfach
ins Publikum fliegt wie ein
geschleudertes Bierglas.
Aus den hinteren Galerien tönen
halbverständliche Rufe, gewissermaßen
dichtverschleierte Rufe. Sie
fallen unter die Räder und werden
überfahren.
Einer stürzt, und die
Nachfolgenden verwickeln sich in einen Knäuel
aus Stahl, Trikot und
Fleischkörpern.
Aus der Aktentasche seines Herrn drängt
plötzlich ein mitgenommener
Dackel seinen Kopf hervor und tut seine
Anwesenheit kund. Oh,
wie gern würde er
hinter den Rädern drein rasen! Er wackelt mit den
Ohren und staunt, daß Menschen so
rasend spazierenfahren.
Die Damen in den Logen schälen
sich langsam aus den Pelzen und
bereiten sich für die Nacht vor
und das Wachen.
Gegen Mitternacht geht die Welt zu
den Buffets, Bier trinken und die
Begeisterung kühlen.
Aus mehreren Reihen sägt ein
mächtiges Schnarchen durch die Luft. Ein
Kopf lehnt an der Schulter des
Nächsten, und eine Sitzreihe nimmt
sich aus wie eine Zeile
Erschlagener. Noch dämmert der Morgen nicht,
und bereits räumt man den Saal.
Aus den Bänken werden die Menschen
herausgeschaufelt und zu den Türen
hinausgespült.
Graues Morgenblei ergießt sich
über den Himmel, hinter dem ein Gott
in sechs Tagen die Welt erschaffen
hat, ohne zu rennen ...
Joseph Roth: Sechstagerennen, Prager Tagblatt, 24. Februar 1922
Berliner Sechstagerennen im Sportpalast 1930. Quelle: live-radsport |
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