Freitag, 1. März 2013

Die Frau von den Barrikaden – Joseph Roth über Larissa Reissner




Umschlag eines der Bücher von Larissa Reissner.



Larissa Reißner wurde 1895 in Lublin geboren, am ersten Mai, dem proletarischen Weltfeiertag. Ich bin geneigt, an der Zufälligkeit des Datums zu zweifeln, wenn ich an das spätere Schicksal der Larissa Reißner denke, das ihr den Titel: Die Frau von den Barrikaden verlieh. (Ihre Genossen, die Matrosen und Soldaten im russischen Bürgerkrieg, nannten sie so.) Ihr Vater war Professor, Sozialist, deutscher Abstammung, ihre Mutter Polin. Als Kind lebte Larissa Reißner einige Zeit in Deutschland. Bei Leonid Andrejew lernte sie schreiben. Im Jahre 1914 wurde sie Mitarbeiterin an der Zeitschrift ihres Vaters. In der Februar-Revolution schrieb sie Artikel in Gorkijs Zeitschrift “Nascha Schisn”.

Sie ging an die Rote Front, war im Dienst der Revolution Soldat, Spion, Kundschafter, Redner, Kommissar, Journalist, Leitartikler und Berichterstatter, Kommandeur, sie ritt, marschierte, schoß, verurteilte, schlich sich hinter den Rücken des Feindes, wurde erkannt, floh, kehrte zurück, sie hungerte, fror, erkrankte, gesundete, tröstete Kranke, sah Kameraden sterben, begrub Tote, liebte, siegte im großen Sieg der Revolution, kehrte heim, ging mit ihrem Mann nach Afghanistan, schrieb darüber, kam nach Deutschland und schrieb darüber, ging in den Ural und beschrieb ihn, erkrankte 1925 an Typhus und starb so schnell, so vehement, so überraschend, wie sie gelebt und geschrieben hatte. Nach acht Tagen war sie tot.

Ihre “Ausgewählten Schriften” sind jetzt, von Karl Radek herausgegeben und eingeleitet, im Neuen Deutschen Verlag, Berlin, erschienen, unter dem Titel: “Oktober”. (XXXI, 495 S. Geb. M. 6.50).

Von den Fingern eines alten Platin-Suchers im Ural schreibt Larissa Reißner: “…sie sind wie zehn weiße Blinde, die sich führerlos, aber sicher umherbewegen, sie sind wie zehn schneeweiße Windhunde, welche die Spur eines silbernen Hirsches verfolgen.” Über die Augen eines alten Kohlengräbers schreibt sie: “Die Augen sind fast farblos, wie Kerzen bei Sonnenlicht.” Wenn sie erklären will, wie unvermittelt einem eine bestimmte Erkenntnis kam, sagt sie: “Diese Erkenntnis kam ganz von selbst, wie der Kuckuck aus der Wanduhr”.

Sie hat übrigens nicht nur für die Revolution gekämpft, gegen die Weißen. Sie kämpfte auch nach der gelungenen Revolution für die Arbeiter gegen die rote Bürokratie: “Der bürokratische Ring schließt sich mit der Befriedigung – der Arbeiter wird in ein Wanzen-Nest eingesperrt, weil wir auf dem Papier beschlossen haben, die von der Revolution angegriffene Waldwirtschaft zu retten.”

Von allen russischen Schriftstellern der jüngsten Zeit gehört sie zu den vier, fünf, die eine literarische Kultur, eine sprachliche Tradition, eine handwerkliche Zucht haben. Ihr eigentliches großes Talent ist eine Art Schlagfertigkeit der Feder. Ihre schriftstellerische Methode ist die Offensive auf das Objekt. Sie erstürmt das “Thema”. Ihre starke Wirkung kommt von ihrer absoluten Subjektivität, ihrer anarchischen Willkür, ihrer aggressiven Melodie. Die lebendige Bildlichkeit ihrer Sprache ist das Produkt russisch volkstümlicher Unmittelbarkeit. Die Sicherheit ihrer trefflichen Metaphern und Vergleiche ist die Folge ihrer eigenen (weiblichen) Sensibilität. Die Unerbitterlichkeit ihres Urteils diktiert ihr ein klares, scharfsichtiges, detailliertes Auge. Die Wärme ihrer Sprache liefert ein großes, edles, menschliches Herz. Ihr Charakter ist human und ihre Überzeugung entschieden. Ihr Instinkt ist hell wie eine Vernunft, ihre Hand flink wie ein Gedanke, ihr Hohn scharf und kalt wie eine Woge, ihr Spott grausam wie ein Fluch, ihr Werkzeug elegant wie ein Scherz, ihr Pathos dunkel wie eine Nacht. Ihr Thema ist die Wirklichkeit, ihre Gedichte sind journalistische Nachrichten, ihre Romane sind Reportagen, ihr großes Drama ist ihr Leben, ihre Liebe und der Tod.


Im Krieg und manchmal auch später trug sie Hosen, Gamaschen, eine Soldatenmütze und eine rubaschka. In Berliner, Leipziger, Hamburger Proletariervierteln trug sie Rock und Bluse, die Uniform der Proletarierin. In den Häusern, den Salons, den Direktorskanzleien berühmter deutscher und französischer Industrieller verkehrte sie unter falschem Namen, unter falschen Voraussetzungen empfohlen, eingeführt und eingeladen, in der kostspieligen, eleganten Tracht einer Dame von Welt.

Im “Romanischen Café” saß sie, sehr selten, sehr gelangweilt, unerkannt und unter Pseudonym, in der Kleidung, die einen symbolischen Kompromiß der literaturnahen Frauen mit den herrschenden Gesetzen der bürgerlichen Mode darstellt. Ihre Schlauheit war so groß wie ihr Talent. Ihre Schauspielerei so überzeugend wie ihre Taten im Bürgerkrieg. Ihre Macht über Menschen und Männer so siegreich wie ihre Schönheit.

Sie war schön. Ihr Gesicht war kühn, licht und entschieden. Ihr Haar hatte den Glanz des Kupfers, es klang beinahe, wenn man es ansah. Ihre Augen waren klug und stolz, wie zwei Gedanken. Ihre Stirn war klar wie ein Mittag. Man sagt, daß ihre Liebe so groß war wie ihr Mut. Diese Frau scheint dagewesen zu sein, um in Legenden weiterzuleben.

Ich sah im letzten Winter – sie war ein Jahr vorher gestorben – ein mittelmäßiges primitives Porträt von ihr, im Kreml, im Zimmer Karl Radeks. Das Bild war mäßig, aber der Tod hatte es geweiht. Es wurde nicht besser, aber es wurde schöner. Radek sprach von der Toten, mit der stillen, lebendigen, gütigen Wärme, die nur in seltenen Fällen über scharfe dialektische Zungen kommt, wie eine Gnade. Es war ein Winterabend, eine schüchterne grüne Schreibtischlampe brannte, draußen fiel Schnee auf den Kreml, drinnen lagen tausend Bücher in Regalen, auf Stühlen, auf dem Tisch, auf dem Boden, das Bild von der jungen, toten schönen Frau hing halb im Schatten wie in einem jenseitigen Dämmer.

Es war wahrscheinlich gut und in Ordnung, dachte ich später, als ich das stille, verschneite Kreml-Tor verließ, es ist vielleicht gut und in Ordnung, daß sie tot ist, die junge Larissa Reißner. Sie wäre wahrscheinlich heute in der stärksten “Opposition” – “der bürokratische Rind schließt sich mit Befriedigung”—vielleicht in Sibirien – es ist nicht viel Platz in der Welt für eine Frau von den Barrikaden, wenn die Barrikaden abgebaut werden.



Joseph Roth: Die Frau von den Barrikaden. Frankfurter Zeitung vom 10. April 1927



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