Samstag, 23. Februar 2013

Mit Joseph Roth beim Berliner Sechstagerennen


Start zum 21. Berliner Sechstagerennen 1929. Quelle: live-radsport


Sechs Tage lang sausten dreizehn Menschen auf Fahrrädern im Arena-
rund des Sportpalastes, und das Publikum hat 43000 Mark für Preise
gestiftet. Die dreizehn fingen Freitag abends um 9 Uhr an, und sie
rannten Tag und Nacht, zur Essenszeit, zur Schlafenszeit, zu allen Zeiten.
Während draußen Straßenbahnen zu fahren anfangen und aufhören,
Menschen sterben, vergiftet, verletzt, überfahren werden, rennen dreizehn
in der Arena. Bedenkt man, daß Gott in sechs Tagen die ganze
komplizierte Welt erschaffen hat, so dünkt es einen sonderbar, daß
dreizehn seiner Geschöpfe in derselben Zeit nichts anderes tun, als auf
ihren Rädern sitzen und Pedale treten. Doch, heißt es, wäre dies ein
großes Ereignis, das die Menschheit sehnsüchtig zwei lange Jahre erwartet
habe. Die ganze Menschheit. Soweit sie Raum fand im Sportpalast,
vor dem die großen Bogenlampen unermeßliches Licht verschwendeten,
als wären sie Himmelskörper und würden vom lieben
Gott selbst erleuchtet. Aus dunklen Straßen dampften die Menschen
hervor wie aus plötzlich geöffneten Ventilen. Automobile schlängeln
sich, dünn geworden und elegant, und ließen ihre Geschwindigkeit in
granziösen Kurven abebben. Vor den Kassen drängte sich das Volk zu
seiner Ertüchtigung. Die Logenplätze kosteten mehr als hundert, und
der Eintritt für Kinder betrug zehn Mark. Ganze Häuser entvölkerten
sich, und ihre Einwohner setzten ihr Familienleben, bestehend aus
Kinder, Hunde und Wärmeflaschen, im Sportpalast fort.
So zogen die Griechen mit Sitzkissen und Zwiebeln ausgerüstet in die
Euripideische Tragödie, die drei Tage dauerte.
Den vielen Sitzreihen entsprießen auf einmal viele tausend Zuschauerköpfe
wie Nadeln auf Steckkissen. Die Musik entfesselt einen Marschorkan:
Das Fagott heult und zuckt, dünn und spitz wie ein leckendes
Flammenzünglein, hervor aus dem ernsten Tongebäude des Flügelhorns.
Halblautes Murmeln erhebt sich aus der Menge und entwickelt
Säulen aus zerstäubten Silben, zerbröckelten Worten, verhauchendem
Papiergeraschel. Auf einem Stuhl wächst ein grüner Schutzmann in die
Höhe wie eine Tanne aus einem Gartenbeet. Seine Augen versenden
möglichst weitreichende Blicke. Es sind sozusagen Blicke auf Zehenspitzen.
Über die Barrieren hängen kühne Menschenleiber wie Kleider zum
Trocknen. Die Presse sitzt am Ziel, bleistiftbewehrt, sachlich.
Jedesmal läutet eine Glocke, hell und siegreich, und ihre Luftschwingungen
flattern gegen die Saalecke. Die Kinder verstreuen ratlose
Blicke und suchen vergeblich nach einem Kontakt mit den Eltern, deren
Oberkörper fast bis in die Arena hinunterhängen. Die weißbekleideten
Kellner spritzen durch die dunklen Menschenhaufen wie abgeschossene
Leuchtraketen. Zu der Mitte sausen die dreizehn in bunten
Trikots auf schräger und glatter Ebene wie losgelassene Kreisel. Durch
einen Unfall scheidet einer aus dem Wettrennen aus, indem er einfach
ins Publikum fliegt wie ein geschleudertes Bierglas.
Aus den hinteren Galerien tönen halbverständliche Rufe, gewissermaßen
dichtverschleierte Rufe. Sie fallen unter die Räder und werden
überfahren.
Einer stürzt, und die Nachfolgenden verwickeln sich in einen Knäuel
aus Stahl, Trikot und Fleischkörpern.
Aus der Aktentasche seines Herrn drängt plötzlich ein mitgenommener
Dackel seinen Kopf hervor und tut seine Anwesenheit kund. Oh,
wie gern würde er hinter den Rädern drein rasen! Er wackelt mit den
Ohren und staunt, daß Menschen so rasend spazierenfahren.
Die Damen in den Logen schälen sich langsam aus den Pelzen und
bereiten sich für die Nacht vor und das Wachen.
Gegen Mitternacht geht die Welt zu den Buffets, Bier trinken und die
Begeisterung kühlen.
Aus mehreren Reihen sägt ein mächtiges Schnarchen durch die Luft. Ein
Kopf lehnt an der Schulter des Nächsten, und eine Sitzreihe nimmt
sich aus wie eine Zeile Erschlagener. Noch dämmert der Morgen nicht,
und bereits räumt man den Saal. Aus den Bänken werden die Menschen
herausgeschaufelt und zu den Türen hinausgespült.
Graues Morgenblei ergießt sich über den Himmel, hinter dem ein Gott
in sechs Tagen die Welt erschaffen hat, ohne zu rennen ...

Joseph Roth: Sechstagerennen, Prager Tagblatt, 24. Februar 1922

Berliner Sechstagerennen im Sportpalast 1930. Quelle: live-radsport

Freitag, 22. Februar 2013

Claire Beck-Loos und Adolf Loos



Claire Beck-Loos: Selbstporträt aus den späten 1920er Jahren. Quelle: wikipedia


Die Fotografin und Autorin Claire Beck-Loos (Klára Becková-Loosová, 1904 Pilsen – 1942 KZ Riga) war die dritte und letzte Ehefrau des Architekten Adolf Loos. Ihre Geschichte und Beziehung zu Loos hat sie eindrucksvoll in dem Buch “Adolf Loos – A Private Portrait” beschrieben. In Deutsch erschien dieses Buch 1936 unter dem Titel “Adolf Loos Privat”. Claire wollte damit Geld für das Grab von Adolf Loos auftreiben, der am 23. August 1933 verstorben war.

Die Familie Beck und deren Bekannte gehörten zu den ersten Kunden von Adolf Loos. Claire verlobte sich mit Adolf Loos im Frühling von 1929, nachdem Loos die Familie Beck zu einer Josefine Baker Vorstellung in Wien eingeladen hatte. Die Becks waren gegen die Verlobung – Claire war 35 Jahre jünger als Adolf. Trotzdem heirateten die beiden am 18. Juli 1929.

Claire begleitete Adolf von 1928 bis 1931 in seiner letzten, ebenso turbulenten wie fruchtbaren Schaffenszeit auf allen Reisen. Sie war zugleich seine Sekretärin und diente dem durch ererbte Schwerhörigkeit in der Kommunikation Eingeschränkten als Vermittlung- und Kontaktperson.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges übersiedelte Claire Beck-Loos mit ihrer Mutter Olga Feigl Beck nach Prag. Dort lebten sie im Kreis der Fotografin Hede Pollack und des Arztes Max Thun-Hohenstein. Im Dezember 1941 wurde sie zusammen mit ihrer Mutter Ins KZ Theresienstadt deportiert. Während ihre Mutter dort starb, wurde Claire im Jänner 1942 weiter nach Riga in ein von den Nazis errichtetes Ghetto gebracht. Dort verliert sich ihre Spur.

Adolf Loos


Quelle: doppelhousepress
Quelle: czernin verlag

Zu Buch und Beziehung der Beiden siehe auch radio.cz