Mittwoch, 26. Juni 2013

Kaffeehausfrühling


Er offenbarte sich bisher bloß darin, daß die Kaffeesieder Preise trieben,
die tägliche Ausgabe für Frühstück und Jause in die Höhe schoß,
im »Schwarzen« lenzlichgeheime Säfte goren, die Ausbeutung des Publikums
ungeahnte Blüten trieb und das Geschäft überhaupt florierte.
So sieht der Wiener Kaffeehausfrühling aus. In der letzten Woche kam
noch ein Neues hinzu: Schani trug den Garten hinaus. Der »Garten«
besteht aus ein paar Latten und Dielenbrettern, die wohlverwahrt auf
dem Dachboden Winterschlaf hielten, und einem Gitter aus Drahtgeflecht
oder Eisen. Ein besonderes Zuvorkommen dem Mai und den
Gästen gegenüber bedeuten noch einige Blumentöpfe und jene grünen
Zweige, auf die in diesem abnorm kalten Frühjahr nur die Kaffeesieder
kamen. Und somit ist alles für die Sonne gerüstet, die leider »infolge
Ausbleibens wichtiger meteorologischer Nachrichten« von der Sternwarte
nicht angekündigt werden kann und sich ohne zuverlässige Prognose
nicht recht aus den Wolken hervortraut ...
Sieht man diese gottverlassenen Cafeveranden an, so drängt sich einem
fast unwillkürlich der Vergleich auf mit nie erfüllten Friedensträumen,
verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen. Diese umgekehrten
Tische mit den umgestülpten Korbstühlen, die vor Nässe weinen,
sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ähnlich, in der alles auf
dem Kopf stünde, wenn auch nur etwas einen Kopf hätte. Die Luft, die
man eigentlich von Rechts wegen hier draußen genießen sollte, ist erfüllt
mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen,
und das Eis, das in normalen Zeiten hier geschluckt werden würde,
hält leider immer noch die Herzen der Menschen krampfhaft umschlossen.
So wird, was dereinst Fortsetzung gemächlichen Familienlebens
und gemütlicher Tarockpartien auf die Straße war, heute eine
recht ungemütliche Verquickung einer ungemütlichen Öffentlichkeit
mit privaten Familiensorgen. Die Kaffeehausterrasse ist heute nur
mehr ein überflüssiges Requisit aus besseren Zeiten und obendrein
noch ein Verkehrshindernis wie Straßenbahn, Post, Telephon und andere
»Verbindungsmittel«. Für Kaffeesieder hat sie allerdings einen
Vorteil: Sie ermöglicht ihnen, unangenehme Stammgäste, die über die
Preis erhöhung schimpfen, auf glatte Weise und im wahrsten Sinne des
Wortes - an die Luft zu setzen ...

Josephus

Joseph Roth in Der Neue Tag, 23. Mai 1919

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