Persönliche Notizen anlässlich des 75. Todestages
Joseph Roths am 27. Mai und seines 120. Geburtstages am 2. September.
Es war Nacht, und ich hatte
die Westautobahn für mich allein. Weit voraus strahlte das Fernlicht. Selten musste
ich es für einen entgegenkommenden Lastwagen abblenden. Ich suchte die
Radiosender ab, blieb schließlich bei einer Männerstimme hängen, die aus einem
Buch vorlas.
'Elisabeth war damals schön, weich und zärtlich und mir
ohne Zweifel zugeneigt. Die kleinste, die geringste ihrer Handlungen und Gesten
rührte mich tief, denn ich fand, daß jede Bewegung ihrer Hand, jedes
Kopfnicken, jedes Wippen ihres Fußes, ein Glätten des Rocks, ein leises
Hochheben des Schleiers, das Nippen an der Kaffeetasse, eine unerwartete Blume
am Kleid, ein Abstreifen des Handschuhs eine deutliche, unmittelbare Beziehung
zu mir verrieten – und nur zu mir. Ja, aus manchen Anzeichen, die zu jener Zeit
wohl schon zur Gattung der sogenannten »kühnen Avancen« gezählt werden mochten,
glaubte ich mit einigem Recht entnehmen zu müssen, daß die Zärtlichkeit, mit
der sie mich anblickte, die scheinbar unwillkürliche und höchst zufällige
Berührung meines Handrückens oder meiner Schulter bindende Versprechungen
waren, Versprechungen großer, köstlicher Zärtlichkeiten, die mir noch
bevorstünden, wenn ich nur mochte, Vorabende von Festen, an deren
kalendarischer Sicherheit gar nicht mehr zu zweifeln war.'
Unweigerlich versank ich immer
tiefer in meinem Autositz wie in einem sanften Fauteuil vor dem offenen Kamin.
Am liebsten hätte ich das Auto am Pannenstreifen angehalten, meine Augen
geschlossen und wäre dem jungen Franz Ferdinand Trotta aus Joseph Roths Kapuzinergruft, wie ich später erfahren
sollte, ins Wien nach dem Ersten Weltkrieg gefolgt.
'War ich nicht bei ihr, kehrte ich in die Gesellschaft
meiner Freunde zurück, so war ich wohl versucht, ihnen im ersten Augenblick von
Elisabeth zu erzählen; ja sogar von ihr zu schwärmen. Aber im Anblick ihrer
müden, schlaffen und höhnischen Gesichter, ihrer sichtbaren und sogar
aufdringlichen Spottsucht, deren Opfer zu werden ich nicht nur fürchtete,
sondern deren allgemein anerkannter Teilhaber ich zu sein wünschte, verfiel ich
sofort in eine stupide, wortlose Schamhaftigkeit, um kaum ein paar Minuten später
jener hochmütigen »Dekadenz« zu verfallen, deren verlorene und stolze Söhne wir
alle waren.'
Schon bald würde ich die
Grenze bei Passau erreichen. Und obwohl ich auch in Deutschland noch ein gutes
Stück durch die Nacht zu fahren hatte, ertappte ich mich doch dabei, dass ich
den Fuß etwas vom Gaspedal nahm, um noch länger von der Erzählung genießen zu
können.
Ich passierte die Grenze, die
nicht viel mehr war als ein blaues Verkehrsschild mit einem „D“ in einem weißen
Oval. Je weiter ich nach Deutschland kam, desto schwächer wurde das Radiosignal
aus Österreich. Langsam löste sich der junge Trotta in der Nacht auf. Bis nur
noch ein Rauschen von ihm übrig blieb. So wie für seinen Schöpfer Josef Roth am
Ende der dreißiger Jahre, als er die Kapuzinergruft
schrieb, seine altösterreichische Heimat unwiederbringlich verloren gegangen
war.
Meine erste Begegnung mit
Joseph Roth war keine lesende, sondern eine zuhörende. Unser Kennenlernen war
pur und unbeeinflusst; keine Buchkritik, kein attraktiver Schutzumschlag haben
mich zu einem Kauf verleitet. Ich entdeckte Roth über seine Sprache.
Ich kaufte und las ihn wie
ein Besessener. Ich verfiel Roth so unausweichlich wie Franz Ferdinand Trotta
der Dekadenz. Entdeckte das journalistische Werk, das mich ebenso in den Bann
zog wie seine Romane und Erzählungen. Vertiefte mich in seine legendenhafte Lebensgeschichte.
Joseph Roths schöpfersicher Output ist unglaublich: 16 Romane, 19 Novellen und
Erzählungen, rund 1500 Artikel publiziert in weit mehr als 100 Zeitungen und
Periodika. Und das in zwanzig kurzen Jahren.
Roth lesen heißt, sich
Textpassagen auf der Zunge zergehen zu lassen. Sie zu genießen wie Gemälde, an
denen man sich nicht sattsehen kann. Seine Erzählungen sind eine
Aneinanderreihung von Wort- und Satzperlen. Seine Sprache ist klar und
treffsicher, eindringlich und bildhaft schön. Wie könnte ich seinen Stil
fassen? Vielleicht mit „Neue Sachlichkeit trifft Legende“.
Es scheint mir ein
interessanter Zufall, dass ich Joseph Roth gerade an einer Grenze kennengelernt
habe. Denn Grenzen spielen in seinem Leben und Werk eine zentrale Rolle. Die
Grenze ist ein Hochdruckkessel des menschlichen Zusammenlebens. Ein Ort, an dem
sich die Macht des Staates voll entfaltet. Papiere werden kontrolliert, und
wenn man sie nicht hat, gefälscht und verhandelt. Zölle eingehoben, Waren
geschmuggelt. Soldaten stationiert. Menschen geschoben, Menschen abgeschoben.
An der Grenze wollen alle Geld verdienen: der Staat, der Gauner, der bestechliche
Beamte. Die Begriffe von gut und böse verschwimmen an der Grenze. Der Schieber
kann Helfer sein, der Zöllner korrupt. Auf beiden Seiten der Grenze leben
Menschen, durch Stacheldraht getrennt.
All das faszinierte Roth.
Selbst war er an der Grenze Galiziens zum russischen Zarenreich aufgewachsen.
Eine Reise nach Wien, ins Zentrum des Habsburgerreiches, dauerte mehr als zehn
Stunden per Eisenbahn. In heutigen Maßstäben war Roths Geburtsort Brody von
Wien weiter entfernt als heute Wien von New York. Und doch kulturell näher.
Roth besuchte das deutschsprachige Gymnasium, las deutsche Literatur und
Zeitungen. Die öffentlichen Gebäude der Stadt waren architektonisch stilgleich
in der ganzen Monarchie zu finden. Auch in Brody säumten Kastanienbäume die
Straßen und Plätze. Man ging ins Kaffeehaus und trank eine Melange. Man aß
Tafelspitz, Apfelstrudel und Zwetschgenknödel. Hörte Walzer, Märsche und
Polkas. Auf der Straße herrschte das Sprachengewirr des Vielvölkerreiches;
polnisch, deutsch, russisch, jiddisch. Auch allgegenwärtig der Antisemitismus,
in dieser Stadt, in der so viele Juden lebten. Und in der Grenzstadt Brody gab
es die Händler und Schankwirte, die Schmuggler und Schlepper, Soldaten und Zöllner,
die armen Ostjuden, die alle Roth so beeindrucken und literarisch sein Leben
lang begleiten sollten.
An der Grenze erlernte Joseph
Roth instinktiv die Schlauheit, mit der er sich später durchs Leben wurstelte.
Er beobachtete schärfer, erkannte früher die Gräuel der Zeit und handelte
schneller als andere.
Fortsetzung folgt.
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