Montag, 19. Mai 2014

Von Zäunen und anderen Grenzen: mein Joseph Roth (Teil 1)


Persönliche Notizen anlässlich des 75. Todestages Joseph Roths am 27. Mai und seines 120. Geburtstages am 2. September.

Es war Nacht, und ich hatte die Westautobahn für mich allein. Weit voraus strahlte das Fernlicht. Selten musste ich es für einen entgegenkommenden Lastwagen abblenden. Ich suchte die Radiosender ab, blieb schließlich bei einer Männerstimme hängen, die aus einem Buch vorlas.

'Elisabeth war damals schön, weich und zärtlich und mir ohne Zweifel zugeneigt. Die kleinste, die geringste ihrer Handlungen und Gesten rührte mich tief, denn ich fand, daß jede Bewegung ihrer Hand, jedes Kopfnicken, jedes Wippen ihres Fußes, ein Glätten des Rocks, ein leises Hochheben des Schleiers, das Nippen an der Kaffeetasse, eine unerwartete Blume am Kleid, ein Abstreifen des Handschuhs eine deutliche, unmittelbare Beziehung zu mir verrieten – und nur zu mir. Ja, aus manchen Anzeichen, die zu jener Zeit wohl schon zur Gattung der sogenannten »kühnen Avancen« gezählt werden mochten, glaubte ich mit einigem Recht entnehmen zu müssen, daß die Zärtlichkeit, mit der sie mich anblickte, die scheinbar unwillkürliche und höchst zufällige Berührung meines Handrückens oder meiner Schulter bindende Versprechungen waren, Versprechungen großer, köstlicher Zärtlichkeiten, die mir noch bevorstünden, wenn ich nur mochte, Vorabende von Festen, an deren kalendarischer Sicherheit gar nicht mehr zu zweifeln war.'


Unweigerlich versank ich immer tiefer in meinem Autositz wie in einem sanften Fauteuil vor dem offenen Kamin. Am liebsten hätte ich das Auto am Pannenstreifen angehalten, meine Augen geschlossen und wäre dem jungen Franz Ferdinand Trotta aus Joseph Roths Kapuzinergruft, wie ich später erfahren sollte, ins Wien nach dem Ersten Weltkrieg gefolgt.

'War ich nicht bei ihr, kehrte ich in die Gesellschaft meiner Freunde zurück, so war ich wohl versucht, ihnen im ersten Augenblick von Elisabeth zu erzählen; ja sogar von ihr zu schwärmen. Aber im Anblick ihrer müden, schlaffen und höhnischen Gesichter, ihrer sichtbaren und sogar aufdringlichen Spottsucht, deren Opfer zu werden ich nicht nur fürchtete, sondern deren allgemein anerkannter Teilhaber ich zu sein wünschte, verfiel ich sofort in eine stupide, wortlose Schamhaftigkeit, um kaum ein paar Minuten später jener hochmütigen »Dekadenz« zu verfallen, deren verlorene und stolze Söhne wir alle waren.'

Schon bald würde ich die Grenze bei Passau erreichen. Und obwohl ich auch in Deutschland noch ein gutes Stück durch die Nacht zu fahren hatte, ertappte ich mich doch dabei, dass ich den Fuß etwas vom Gaspedal nahm, um noch länger von der Erzählung genießen zu können.

Ich passierte die Grenze, die nicht viel mehr war als ein blaues Verkehrsschild mit einem „D“ in einem weißen Oval. Je weiter ich nach Deutschland kam, desto schwächer wurde das Radiosignal aus Österreich. Langsam löste sich der junge Trotta in der Nacht auf. Bis nur noch ein Rauschen von ihm übrig blieb. So wie für seinen Schöpfer Josef Roth am Ende der dreißiger Jahre, als er die Kapuzinergruft schrieb, seine altösterreichische Heimat unwiederbringlich verloren gegangen war.

Meine erste Begegnung mit Joseph Roth war keine lesende, sondern eine zuhörende. Unser Kennenlernen war pur und unbeeinflusst; keine Buchkritik, kein attraktiver Schutzumschlag haben mich zu einem Kauf verleitet. Ich entdeckte Roth über seine Sprache.

Ich kaufte und las ihn wie ein Besessener. Ich verfiel Roth so unausweichlich wie Franz Ferdinand Trotta der Dekadenz. Entdeckte das journalistische Werk, das mich ebenso in den Bann zog wie seine Romane und Erzählungen. Vertiefte mich in seine legendenhafte Lebensgeschichte. Joseph Roths schöpfersicher Output ist unglaublich: 16 Romane, 19 Novellen und Erzählungen, rund 1500 Artikel publiziert in weit mehr als 100 Zeitungen und Periodika. Und das in zwanzig kurzen Jahren.

Roth lesen heißt, sich Textpassagen auf der Zunge zergehen zu lassen. Sie zu genießen wie Gemälde, an denen man sich nicht sattsehen kann. Seine Erzählungen sind eine Aneinanderreihung von Wort- und Satzperlen. Seine Sprache ist klar und treffsicher, eindringlich und bildhaft schön. Wie könnte ich seinen Stil fassen? Vielleicht mit „Neue Sachlichkeit trifft Legende“.

Es scheint mir ein interessanter Zufall, dass ich Joseph Roth gerade an einer Grenze kennengelernt habe. Denn Grenzen spielen in seinem Leben und Werk eine zentrale Rolle. Die Grenze ist ein Hochdruckkessel des menschlichen Zusammenlebens. Ein Ort, an dem sich die Macht des Staates voll entfaltet. Papiere werden kontrolliert, und wenn man sie nicht hat, gefälscht und verhandelt. Zölle eingehoben, Waren geschmuggelt. Soldaten stationiert. Menschen geschoben, Menschen abgeschoben. An der Grenze wollen alle Geld verdienen: der Staat, der Gauner, der bestechliche Beamte. Die Begriffe von gut und böse verschwimmen an der Grenze. Der Schieber kann Helfer sein, der Zöllner korrupt. Auf beiden Seiten der Grenze leben Menschen, durch Stacheldraht getrennt.

All das faszinierte Roth. Selbst war er an der Grenze Galiziens zum russischen Zarenreich aufgewachsen. Eine Reise nach Wien, ins Zentrum des Habsburgerreiches, dauerte mehr als zehn Stunden per Eisenbahn. In heutigen Maßstäben war Roths Geburtsort Brody von Wien weiter entfernt als heute Wien von New York. Und doch kulturell näher. Roth besuchte das deutschsprachige Gymnasium, las deutsche Literatur und Zeitungen. Die öffentlichen Gebäude der Stadt waren architektonisch stilgleich in der ganzen Monarchie zu finden. Auch in Brody säumten Kastanienbäume die Straßen und Plätze. Man ging ins Kaffeehaus und trank eine Melange. Man aß Tafelspitz, Apfelstrudel und Zwetschgenknödel. Hörte Walzer, Märsche und Polkas. Auf der Straße herrschte das Sprachengewirr des Vielvölkerreiches; polnisch, deutsch, russisch, jiddisch. Auch allgegenwärtig der Antisemitismus, in dieser Stadt, in der so viele Juden lebten. Und in der Grenzstadt Brody gab es die Händler und Schankwirte, die Schmuggler und Schlepper, Soldaten und Zöllner, die armen Ostjuden, die alle Roth so beeindrucken und literarisch sein Leben lang begleiten sollten.


An der Grenze erlernte Joseph Roth instinktiv die Schlauheit, mit der er sich später durchs Leben wurstelte. Er beobachtete schärfer, erkannte früher die Gräuel der Zeit und handelte schneller als andere.
Fortsetzung folgt. 
 


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