Freitag, 23. Mai 2014

Von Zäunen und anderen Grenzen: mein Joseph Roth (Teil 2)


Persönliche Notizen anlässlich des 75. Todestages Joseph Roths am 27. Mai und seines 120. Geburtstages am 2. September.

Mitte der Zwanzigerjahre treffen wir Joseph Roth in Berlin. Eine steile Karriere hat er gemacht, vom mittellosen Kriegsheimkehrer in Wien zu einem der bedeutendsten Journalisten im deutschsprachigen Raum, der sich auch erste Sporen als Romancier verdient hat. Schnell hat er mit dem Charme eines Wieners in den Cafés Kontakte geknüpft, hat sich als harter Arbeiter, scharfer Beobachter und sozialkritischer Analyst mit brillanten Essays einen Namen gemacht. Für die bedeutendsten Zeitungen zeichnet Joseph Roth das Gesicht der Zeit, wie er es selbst nennt.

Wien zu verlassen war die richtige Entscheidung gewesen. Zu talentiert, ambitioniert und entschlossen war er für das Bruchstück, das von Österreich übrig geblieben war, nachdem der Kaiser tot, der Krieg verloren und die Siegermächte in Versailles Europa und das Habsburgerreich neu aufgeteilt hatten.

Man schickt Joseph Roth auf Reisen, und er schickt eindrückliche Reportagen an die Redaktionen zurück. Er genießt die Wanderschaft und Freiheit, das ausschweifende Leben in Hotels und Cafés, befreit von allen bürgerlichen Zwängen. In der Fremde fühlt er sich heimisch. Von allen Ländern jedoch berührt ihn keines so wie Frankreich. Paris und die südfranzösischen, „weissen“ Städte hinterlassen bleibende Eindrücke bei ihm.

„Als ich dreißig Jahre alt war, durfte ich endlich die weißen Städte sehen, die ich als Knabe geträumt hatte. Meine Kindheit verlief grau in grauen Städten. Meine Jugend war ein grauer und roter Militärdienst, eine Kaserne, ein Schützengraben, ein Lazarett.“

In Paris und Marseille taucht er ein in die Vielfalt an Völkern, Sprachen und Kulturen. Er findet eine Welt, in der Magie, Mystik und Wunder noch eine Rolle spielen. All dies kennt er aus seiner galizischen Heimat. Es ist, als ob er lange in einem hintersten Winkel seines Gedächtnisses verborgene Erinnerungen wiederfindet. Er holt einen Teil seines Ichs in sein Bewusstsein zurück, den er in den Zeiten des Geldverdienens vergessen hatte. Er besinnt sich seiner jüdischen Wurzeln, schreibt über das Schicksal der armen Ostjuden auf der Flucht. Seine Beschreibungen der „weißen Städte“ sind eine Liebeserklärung.

In Frankreich fühlt er sich frei. Er kann sich selbst sein und muss keine Rolle spielen. Deutschland, wo er nie heimisch wurde, rückt für ihn in eine solche Ferne, dass Roth es nicht nur durch eine Grenze, sondern einen literarischen Zaun von Frankreich getrennt sieht.

„Hinter dem Zaun gewann ich mich selbst wieder. Ich repräsentiere nicht, ich übertreibe nicht, ich verleugne nicht.“

Deutschland verkommt für Roth zur spießbürgerlichen Provinz; es ist deprimierend, kulturlos, eindimensional. Und es ist auf dem Weg in eine nationalsozialistische, antisemitische Diktatur: Braunhemden randalieren und Hakenkreuzfahnen wehen im Wind. Als Hitler schließlich an die Macht kommt, ist Joseph Roth einer der Ersten, der aus Deutschland flieht. Kurz danach werden seine Bücher in Deutschland in die Flammen geworfen. Sein geliebtes Frankreich wird zum Exil.

Man hatte mir für das Bewerbungsgespräch in Amsterdam ein Luxushotel am Dam, dem Hauptplatz der Stadt, gebucht. Nach dem Frühstück blieb mir noch etwas Zeit vor dem Termin, und ich lief ziellos durch die Straßen und Grachten, um mir die Spannung zu vertreiben. Ein prächtiger Sommertag kündigte sich an. Die Luft war schon warm und die Sonne, wo sie durch die schmalen Gassen zwischen den Grachtenhäusern einen Zugang zu mir fand, spendete Energie wie ein zweites Frühstück. Die Stadt selbst schlief noch. Eine Kehrmaschine durchbrach die Stille und fegte den Müll auf, der über dem Pflaster verstreut lag wie vom Körper gerissene Kleidungsstücke nach einer hemmungslosen Nacht. Das Wasser der Grachten schien eine feste, schwarz glänzende Masse, Wohnboote steckten darin. Nur wenn eine Möwe landete, kam Bewegung in die Oberfläche, und Wellenzirkel rollten still gegen die Kanalmauern. Touristen auf gelben Leihfahrrädern schlingerten über einen Platz wie ein Schwarm Stare. Einer brach aus der Formation aus und verirrte sich auf die Gleise, und eine Straßenbahn kam krachend zum Stillstand. Die Geschäfte schlummerten hinter mit Graffiti bemalten Rollläden. Sie sperrten erst zu Mittag auf.

Was war hier gestern Nachmittag noch für ein Treiben gewesen. Alle waren draußen, saßen vor ihren Häusern auf provisorisch auf die schmalen Gehwege hingestellten Bänken und Stühlen. Durch offene Türen und Fenster drang Musik. Man hörte alle Sprachen der Welt. Auf den Grachten eine Prozession von Motorbooten. Von einem zum anderen prostete man sich mit Wein und Bier zu. Eine magische, ausgelassene Stimmung lag über der ganzen Stadt. Ich wusste, dass Amsterdam mein Platz war. Meine Fremde, in der ich heimisch werden sollte.

Joseph Roth hatte meine Stadt oft besucht. Auf den Fotos von ihm in Amsterdam erkennt man den Roth der Exiljahre: aufgedunsen vom Alkohol, tiefe Tränensäcke, ein verwahrloster Bart, Schweiß auf der Stirn, der Anzug nicht so penibel sauber wie man es früher von ihm gewohnt war. Umringt von Freunden, Verlagsmitarbeitern und Exilautoren, in einem Nebel aus Rauch und Alkohol schreibt er in weiterhin glasklarer Sprache, unablässig und unerbittlich, wie zu allen Zeiten gedrängt von überschrittenen Deadlines und längst verbrauchten Vorschüssen. Hin und wieder wirft er einen bissigen Kommentar ins Gespräch ein. Viel öfter noch kippt er einen Schnaps hinunter.

Wenn er inmitten des Gewusels schreibt, umspielt ein fast nicht wahrnehmbares Schmunzeln seinen Mund. Es ist das ironische Schmunzeln eines Wieners, der mit Lust und Liebe seine Helden Schicksalsschläge erleiden, sie zweifeln, schwimmen und untergehen lässt. Und der dabei doch auch mit großem Herzen mit ihnen fühlt und leidet. Er kennt ihr Schicksal wie sein eigenes. Er ringt mit Leben, Leidenschaft und Laster wie seine Romanfiguren.

Aber Roths Schmunzeln ist auch das Überhebliche des begabten Künstlers, der um sein Talent und die Wirkung seiner Worte weiß. Es ist gerade diese Furchtlosigkeit im Schreiben, dieses unbändige Selbstvertrauen, das ich am meisten an Joseph Roth bewundere. Kein Schicksalsschlag konnte seinen Glauben an das eigene Können erschüttern. Vieles hat er in seinem Leben verloren, seine Sprache nie. Es ist das gleiche Selbstvertrauen, mit dem er in Berlin seine Karriere begonnen hatte. Schon damals unterstrich er seinen Status in einem Brief an die Frankfurter Zeitung:

„Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern ein Hauptgericht. Man kann das Feuilleton nicht mit der linken Hand schreiben. Das Feuilleton ist für die Zeitung ebenso wichtig, wie die Politik und für den Leser noch wichtiger. Ich bin ein Journalist, kein Berichterstatter, ich bin Schriftsteller, kein Leitartikelschreiber.“

Viel zu wenig hat Josef Roth über Amsterdam selbst geschrieben. Er hatte andere Sorgen. Er kämpfte ums Überleben. Der Meister in Vertragsunterhandlungen konnte kaum noch Vorschüsse aus den armen Exilverlagen pressen. Sein vom Alkohol gezeichneter Körper wurde mehr und mehr zu einem Gefängnis. Der sein Leben lang nach Freiheit sehnende Roth hatte sich selbst eingesperrt. Die immer deutlicher auf einen Krieg hinauslaufenden Entwicklungen trieben ihn an, um für die Wiedereinsetzung eines österreichischen Kaisers zu kämpfen, ein letzter, illusorischer Rettungsanker in einer untergehenden Welt der Gräuel.

Amsterdam war für Roth ein Arbeitsplatz. Er kam auf Besuch, um nach Paris zurückzukehren. In seine Stadt, in der er auch sterben sollte.

Fortsetzung folgt.

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