Persönliche Notizen anlässlich des 75. Todestages
Joseph Roths am 27. Mai und seines 120. Geburtstages am 2. September.
Mitte der Zwanzigerjahre
treffen wir Joseph Roth in Berlin. Eine steile Karriere hat er gemacht, vom
mittellosen Kriegsheimkehrer in Wien zu einem der bedeutendsten Journalisten im
deutschsprachigen Raum, der sich auch erste Sporen als Romancier verdient hat. Schnell
hat er mit dem Charme eines Wieners in den Cafés Kontakte geknüpft, hat sich
als harter Arbeiter, scharfer Beobachter und sozialkritischer Analyst mit
brillanten Essays einen Namen gemacht. Für die bedeutendsten Zeitungen zeichnet
Joseph Roth das Gesicht der Zeit, wie er es selbst nennt.
Wien zu verlassen war die
richtige Entscheidung gewesen. Zu talentiert, ambitioniert und entschlossen war
er für das Bruchstück, das von Österreich übrig geblieben war, nachdem der
Kaiser tot, der Krieg verloren und die Siegermächte in Versailles Europa und
das Habsburgerreich neu aufgeteilt hatten.
Man
schickt Joseph Roth auf Reisen, und er schickt eindrückliche Reportagen an die
Redaktionen zurück. Er genießt die Wanderschaft und Freiheit, das
ausschweifende Leben in Hotels und Cafés, befreit von allen bürgerlichen
Zwängen. In der Fremde fühlt er sich heimisch. Von allen Ländern jedoch berührt
ihn keines so wie Frankreich. Paris und die südfranzösischen, „weissen“ Städte
hinterlassen bleibende Eindrücke bei ihm.
„Als ich dreißig Jahre alt war, durfte ich endlich die
weißen Städte sehen, die ich als Knabe geträumt hatte. Meine Kindheit verlief
grau in grauen Städten. Meine Jugend war ein grauer und roter Militärdienst,
eine Kaserne, ein Schützengraben, ein Lazarett.“
In Paris und Marseille taucht
er ein in die Vielfalt an Völkern, Sprachen und Kulturen. Er findet eine Welt,
in der Magie, Mystik und Wunder noch eine Rolle spielen. All dies kennt er aus
seiner galizischen Heimat. Es ist, als ob er lange in einem hintersten Winkel
seines Gedächtnisses verborgene Erinnerungen wiederfindet. Er holt einen Teil
seines Ichs in sein Bewusstsein zurück, den er in den Zeiten des Geldverdienens
vergessen hatte. Er besinnt sich seiner jüdischen Wurzeln, schreibt über das
Schicksal der armen Ostjuden auf der Flucht. Seine Beschreibungen der „weißen
Städte“ sind eine Liebeserklärung.
In Frankreich fühlt er sich
frei. Er kann sich selbst sein und muss keine Rolle spielen. Deutschland, wo er
nie heimisch wurde, rückt für ihn in eine solche Ferne, dass Roth es nicht nur
durch eine Grenze, sondern einen literarischen Zaun von Frankreich getrennt
sieht.
„Hinter dem Zaun gewann ich mich selbst wieder. Ich
repräsentiere nicht, ich übertreibe nicht, ich verleugne nicht.“
Deutschland verkommt für Roth
zur spießbürgerlichen Provinz; es ist deprimierend, kulturlos, eindimensional.
Und es ist auf dem Weg in eine nationalsozialistische, antisemitische Diktatur:
Braunhemden randalieren und Hakenkreuzfahnen wehen im Wind. Als Hitler schließlich
an die Macht kommt, ist Joseph Roth einer der Ersten, der aus Deutschland
flieht. Kurz danach werden seine Bücher in Deutschland in die Flammen geworfen.
Sein geliebtes Frankreich wird zum Exil.
Man hatte mir für das
Bewerbungsgespräch in Amsterdam ein Luxushotel am Dam, dem Hauptplatz der
Stadt, gebucht. Nach dem Frühstück blieb mir noch etwas Zeit vor dem Termin,
und ich lief ziellos durch die Straßen und Grachten, um mir die Spannung zu
vertreiben. Ein prächtiger Sommertag kündigte sich an. Die Luft war schon warm
und die Sonne, wo sie durch die schmalen Gassen zwischen den Grachtenhäusern
einen Zugang zu mir fand, spendete Energie wie ein zweites Frühstück. Die Stadt
selbst schlief noch. Eine Kehrmaschine durchbrach die Stille und fegte den Müll
auf, der über dem Pflaster verstreut lag wie vom Körper gerissene Kleidungsstücke
nach einer hemmungslosen Nacht. Das Wasser der Grachten schien eine feste,
schwarz glänzende Masse, Wohnboote steckten darin. Nur wenn eine Möwe landete,
kam Bewegung in die Oberfläche, und Wellenzirkel rollten still gegen die Kanalmauern.
Touristen auf gelben Leihfahrrädern schlingerten über einen Platz wie ein
Schwarm Stare. Einer brach aus der Formation aus und verirrte sich auf die
Gleise, und eine Straßenbahn kam krachend zum Stillstand. Die Geschäfte
schlummerten hinter mit Graffiti bemalten Rollläden. Sie sperrten erst zu
Mittag auf.
Was war hier gestern Nachmittag
noch für ein Treiben gewesen. Alle waren draußen, saßen vor ihren Häusern auf
provisorisch auf die schmalen Gehwege hingestellten Bänken und Stühlen. Durch
offene Türen und Fenster drang Musik. Man hörte alle Sprachen der Welt. Auf den
Grachten eine Prozession von Motorbooten. Von einem zum anderen prostete man
sich mit Wein und Bier zu. Eine magische, ausgelassene Stimmung lag über der
ganzen Stadt. Ich wusste, dass Amsterdam mein Platz war. Meine Fremde, in der
ich heimisch werden sollte.
Joseph Roth hatte meine Stadt
oft besucht. Auf den Fotos von ihm in Amsterdam erkennt man den Roth der Exiljahre:
aufgedunsen vom Alkohol, tiefe Tränensäcke, ein verwahrloster Bart, Schweiß auf
der Stirn, der Anzug nicht so penibel sauber wie man es früher von ihm gewohnt
war. Umringt von Freunden, Verlagsmitarbeitern und Exilautoren, in einem Nebel
aus Rauch und Alkohol schreibt er in weiterhin glasklarer Sprache, unablässig
und unerbittlich, wie zu allen Zeiten gedrängt von überschrittenen Deadlines
und längst verbrauchten Vorschüssen. Hin und wieder wirft er einen bissigen
Kommentar ins Gespräch ein. Viel öfter noch kippt er einen Schnaps hinunter.
Wenn er inmitten des Gewusels
schreibt, umspielt ein fast nicht wahrnehmbares Schmunzeln seinen Mund. Es ist
das ironische Schmunzeln eines Wieners, der mit Lust und Liebe seine Helden
Schicksalsschläge erleiden, sie zweifeln, schwimmen und untergehen lässt. Und
der dabei doch auch mit großem Herzen mit ihnen fühlt und leidet. Er kennt ihr
Schicksal wie sein eigenes. Er ringt mit Leben, Leidenschaft und Laster wie
seine Romanfiguren.
Aber Roths Schmunzeln ist auch
das Überhebliche des begabten Künstlers, der um sein Talent und die Wirkung
seiner Worte weiß. Es ist gerade diese Furchtlosigkeit im Schreiben, dieses
unbändige Selbstvertrauen, das ich am meisten an Joseph Roth bewundere. Kein
Schicksalsschlag konnte seinen Glauben an das eigene Können erschüttern. Vieles
hat er in seinem Leben verloren, seine Sprache nie. Es ist das gleiche
Selbstvertrauen, mit dem er in Berlin seine Karriere begonnen hatte. Schon damals
unterstrich er seinen Status in einem Brief an die Frankfurter Zeitung:
„Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise,
sondern ein Hauptgericht. Man kann das Feuilleton nicht mit der linken Hand
schreiben. Das Feuilleton ist für die Zeitung ebenso wichtig, wie die Politik
und für den Leser noch wichtiger. Ich bin ein Journalist, kein
Berichterstatter, ich bin Schriftsteller, kein Leitartikelschreiber.“
Viel zu wenig hat Josef Roth
über Amsterdam selbst geschrieben. Er hatte andere Sorgen. Er kämpfte ums
Überleben. Der Meister in Vertragsunterhandlungen konnte kaum noch Vorschüsse
aus den armen Exilverlagen pressen. Sein vom Alkohol gezeichneter Körper wurde
mehr und mehr zu einem Gefängnis. Der sein Leben lang nach Freiheit sehnende Roth
hatte sich selbst eingesperrt. Die immer deutlicher auf einen Krieg
hinauslaufenden Entwicklungen trieben ihn an, um für die Wiedereinsetzung eines
österreichischen Kaisers zu kämpfen, ein letzter, illusorischer Rettungsanker
in einer untergehenden Welt der Gräuel.
Amsterdam war für Roth ein Arbeitsplatz.
Er kam auf Besuch, um nach Paris zurückzukehren. In seine Stadt, in der er auch
sterben sollte.
Fortsetzung folgt.
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